Erfolgreiche gehörlose und schwerhörige Menschen im Beruf

Arbeits- und Lebenswelten, Bildungsgeschichten und Personen

Inhaltsbereich

Bildungsweg

Inhalt

Besuchte Schulform

44 Prozent unserer IP besuchten während ihrer Schulzeit eine Regelschule, 56 Prozent eine Schule für gehörlose/schwerhörige Kinder. Ein Grund für den hohen Prozentsatz von Regelschülern und-schülerinnen in unserer Stichprobe könnte die progrediente Hörschädigung sein, die viele von ihnen aufweisen: Zum Zeitpunkt des Schulbesuchs hatten sie einen deutlich besseren Hörstatus, der für einen erfolgreichen Besuch einer Regelschule (ohne besondere Unterstützungsleistungen) sicherlich förderlich war.

Zur Situation in den Schulen: Was war förderlich, was war hemmend?

Förderschule

Etwa ein Drittel der befragten gehörlosen/schwerhörigen Personen fühlten sich durch den Unterricht und die Lerninhalte gut auf ihre spätere berufliche Laufbahn vorbereitet.
Ebenfalls knapp ein Drittel der Befragten äußerte sich unzufrieden mit dem Unterricht. Beklagt wurden vor allem:

  • schlechte kommunikative Bedingungen aufgrund eines rein lautsprachlich geführten Unterrichts,
  • ein zu geringes Bildungsniveau.

Die ehemaligen Förderschüler, die eher unzufrieden waren, entwickelten Strategien, um die fehlende Wissensvermittlung auszugleichen:

  • verstärkte Fokussierung auf Schriftsprache,
  • besonderer Ehrgeiz, Fleiß und Eigeninitiative.

Regelschule

Knapp 80 Prozent der Regelschüler und -schülerinnen fühlten sich in der Schule nicht gut begleitet, weil man in der Schule wenig bis gar nicht auf ihre besonderen Bedarfe eingegangen war. Auch sie entwickelten Strategien, um im Regelschulalltag (über)leben zu können:

  • hohe Eigeninitiative, z.B. Mitschüler um Hilfe bitten,
  • zuhause nachlesen und alleine oder mit den Eltern nachlernen.

Gute Unterstützung erfuhren die (wenigen) gehörlosen/schwerhörigen Regelschüler/-innen vor allem durch eine positive Haltung der Lehrer und Lehrerinnen oder durch deren Bereitschaft, ihnen mehr Zeit im Sinne eines Nachteilausgleichs einzuräumen.

Die Beziehungen zu den hörenden Peers (Gleichaltrigen) an der Regelschule wurden mehrheitlich als schwierig dargestellt. Nur 2 von 14 Personen, die eine Regelschule besucht hatten, berichteten von einem positiven Miteinander in der Schule. Die Mehrzahl der IP erinnerte sich an ein „Allein sein“ oder an ein „Einzelkämpfertum“, zum Teil auch an Mobbing und „Hänseleien“.

Zur Situation in Studium und Ausbildung: Was war förderlich, was war hemmend?

Studium

70 Prozent der Befragten haben ein Studium abgeschlossen, von diesen waren etwa gleich viele ehemalige Regelschüler wie ehemalige Förderschüler.

Was war förderlich für ein erfolgreiches Studium?

  • Hintergrundwissen beim hörenden Umfeld über die Bedürfnisse von gehörlosen/schwerhörigen Menschen begünstigten den Umgang miteinander. Die Begegnungen wurden dann positiver, selbstverständlicher und partnerschaftlicher erlebt. Wenn unterstützende Rahmenbedingungen für gl/sh Studierende wie beispielsweise der Einsatz von Mitschreibkräften, Schriftdolmetscher/Gebärdensprachdolmetscher, Mentorenprogramme usw. bereits etabliert waren, konnte die Energie in das Studieren investiert werden.

  • Ein guter Austausch zwischen gehörlosen/schwerhörigen Studierenden konnte den Verlauf des Studiums begünstigen, weil man sich gegenseitig unterstützen, beraten und begleiten konnte.

  • Kleine Hochschulen/Universitäten oder Studiengänge mit wenig Studierenden und entsprechend kleineren Seminaren stellten kommunikativ überschaubare und damit günstigere Lernsettings her.

  • Alle Befragten betonten die Wichtigkeit einer guten Schriftsprach- und Lesekompetenz, um ihr Studium erfolgreich zu bewältigen. Neben dem stets (für alle Studierenden!) notwendigen Literaturstudium mussten Mitschriften gelesen, Inhalte von Vorlesungen und Seminaren erneut nachgelesen, Prüfungen evtl. schriftlich durchgeführt werden.

  • Unterstützungssysteme standen nicht immer in verlässlicher Weise zur Verfügung: Dolmetscher waren verhindert, Mitschriften unklar formuliert usw. Deswegen brauchten die Interviewten viel Flexibilität, Kreativität und ein hohes Maß an Selbstsorge („Self-Advocacy“), um immer wieder Lösungen für kommunikativ schwierige Situationen zu finden.

Ausbildung

Insgesamt 19 Personen (59%) haben eine Ausbildung absolviert, neun von diesen (28%) haben später noch ein Studium abgeschlossen. Etwa zwei Drittel aller IP, die eine berufliche Ausbildung absolvierten, waren auf einer Berufsschule für Hörende, gut ein Drittel in einer Berufsschule für gehörlose/schwerhörige Jugendliche.

Was war förderlich für eine erfolgreiche Ausbildung?

Situation in der Ausbildungsstätte

Keine der 19 Personen, die eine Ausbildung absolviert hatten, erhielt eine Unterstützung oder Begleitung durch Dolmetscher oder andere Personen in ihrer Ausbildungsstätte. Alle waren daher auf Vorgesetzte und Kollegen angewiesen, die sich ihnen positiv zuwandten. Hilfreich war ein kollegiales Umfeld sowie die aktive Thematisierung der eigenen Hörbehinderung.

Regel-Berufsschule:

  • Nur 2 der 12 ehemaligen Berufs-Regelschüler haben die Schule mit Gebärdensprachdolmetschern bzw. Mitschreibkräften besucht. Alle anderen Personen haben ähnliche Strategien angewendet, um dem Unterricht zu folgen wie in den Schuljahren zuvor: Viel selbstständig lesen und lernen, Mitschüler um Hilfe bitten, über ihre Bedürfnisse aufklären. Manchen gelang dies in ihrer Einschätzung gut, andere fühlten sich dennoch wie „Außenseiter“.

  • Nur in einem Fall war der Integrationsfachdienst bereits vor Beginn der Ausbildung Ansprechpartner für die Ausbildungsfirma und hatte die Kollegen und Vorgesetzten auf den neuen gehörlosen Auszubildenden vorbereitet. Dies erlebte er als sehr hilfreich und angenehm.

Berufsschule für gehörlose/schwerhörige Jugendliche

  • Interviewpartner und -partnerinnen, die eine Berufsschule für Hörgeschädigte besuchten, profitierten deutlich von der Möglichkeit, sich fachlich mit anderen gehörlosen/schwerhörigen Auszubildenden auszutauschen und eine Art „Networking“ zu betreiben.

  • Die überwiegend kleineren Klassen, der zum Teil in Gebärdensprache geführte Unterricht und/oder langsames und deutliches Sprechen (d.h. kommunikativ gute Bedingungen) begünstigten das Verstehen des Fachwissens. So fühlten sich die Interviewten besser auf die Vorgänge im Betrieb vorbereitet.

Weiterbildung

Für 90% der Untersuchungsgruppe war Weiterbildung von großer Bedeutung. Sie wurde als wesentliche Voraussetzung wahrgenommen, um in einer jeweiligen beruflichen Tätigkeit einerseits auf dem aktuellen Wissensstand zu bleiben und sich andererseits fachlich weiterzuentwickeln.

Ziele von Weiterbildung waren:

  • Weiterbildungen zur beruflichen Qualifikation und Erweiterung beruflicher Fähigkeiten
  • Weiterbildungen, die explizit aufstiegs- und führungsorientiert sind
  • Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikation:

Vor dem Hintergrund der eigenen Berufsbiographie wünschte sich ein Teilnehmer mit einer Führungsposition spezielle Weiterbildungen für gehörlose/schwerhörige Menschen. Er würde ...

„Selbstbewusstseinsseminare für Hörgeschädigte anbieten, ... um auch so Situationen durchzuspielen, wenn‘s negativ läuft. Dass man lernt, damit umzugehen.“

Dieser Teilnehmer regte auch an, eine Austauschplattform einzurichten für gehörlose/schwerhörige Führungskräfte, um sich gegenseitig Impulse zu geben.

Insgesamt bestätigte sich, dass die Teilnahme an Weiterbildungen im Zusammenhang von Berufserfolg einen sehr hohen Stellenwert hat. Förderte der Vorgesetzte die Teilnahme an Weiterbildung, wurde dies auch als Förderung für das persönliche Weiterkommen im Beruf wahrgenommen und geschätzt.

Lernstrategien

Unabhängig von den jeweiligen „Lernorten“ wollten wir auch wissen, wie in der Schule, während der Ausbildung oder im Studium gelernt wurde bzw. was wichtig war, um optimale Lernbedingungen zu haben. 22 Personen gaben darüber Auskunft. Die Vorgehensweisen ließen sich grob in zwei Gruppen einteilen mit jeweils verschiedenen Strategien, hier in der Rangfolge der Nennungen (Mehrfachnennungen waren möglich):

  1. Alleine arbeiten und für optimale Lernbedingungen sorgen (30 Nennungen)

    • Lesen: Bücher, Skripte, Mitschriften, Internet
    • Alleine arbeiten, allgemein
    • Bewusstes Sich-Einstellen auf die Unterrichtssituation als gehörlose/schwerhörige Person (durch gezielte Fächerwahl, Sitzposition im Raum sowie starke Konzentration).
  2. Mit Unterstützung von anderen lernen (23 Nennungen)

    • Personelle Hilfen, d.h. Mitschreibkraft, Dolmetscher, Tutor, Kommilitonen (2 Personen berichten auch von intensivem Nacharbeiten mit den Eltern)
    • Lerngruppen
    • Belegen von zusätzlichen Kursen

Die Analyse der genannten Lernstrategien zeigte eine breite Palette unterschiedlicher Verhaltensweisen und Maßnahmen, die angewandt wurden, um zu vergleichbaren Lernerfolgen wie Hörende in Schule, Ausbildung und Studium zu kommen. Dabei ergänzten sich Formen des Alleine-Lernens mit der Inanspruchnahme von personellen Hilfen, sowohl von professionellen Hilfen (etwa Dolmetscher) als auch von informellen Hilfen durch Mitschüler oder Kommilitonen.