Persönlichkeit - Soziale Kontakte
Persönlichkeit/Identität
Identität als Ergebnis eines Prozesses
Eines der zentralen Ergebnisse unserer Studie ist, dass ein offener Umgang mit der eigenen Hörbehinderung zu beruflichem Erfolg beiträgt. In diesem Sinne formuliert ein Interviewpartner pointiert:
"Wenn ich nicht offen [im Umgang mit der Hörbehinderung] bin, wird mich das immer so viel Kraft kosten, dass mir die Kraft für den beruflichen Erfolg dann einfach fehlt."
Dieses „Zu-sich-stehen“, diese Offenheit und das Annehmen der Hörschädigung sind auch wichtig im Umgang mit hörenden Kollegen, Klienten und Kunden. Man kann benennen, unter welchen Bedingungen man Einschränkungen hat und was man als gl/sh Mensch benötigt, damit der Arbeitsplatz optimal gestaltet werden kann:
"Wenn du sagst, ja, ich habe ein Problem, aber ich habe eine Lösung, und wenn [der Gesprächspartner] in der Lage ist, das zu verstehen, dann kann [er] eher damit umgehen."
Die Interviews zeigen aber auch, dass solch ein konstruktiver, positiver Umgang mit der Hörschädigung und solch eine Offenheit nicht immer von Anfang da waren. Sie sind Teile eines Identitätsprozesses, den unsere Gesprächspartner durchlaufen haben oder noch durchlaufen. Häufig sind es besondere Ereignisse oder Erlebnisse, die diesen Prozess anregen. Insgesamt berichten 19 Personen (60 %) sehr deutlich von solch einer Entwicklung und den damit verbundenen Veränderungen:
"Dass ich auf einmal offen und offensiv damit umgehe, nee, das ist ein langer Prozess."
Was beeinflusst diesen Prozess der Identitätsentwicklung?
In den 19 Interviews, in denen von solchen Prozessen besonders deutlich berichtet wird, zeigen sich einerseits ganz individuelle Verläufe, dennoch lassen sich ähnliche Erlebnisse und Erfahrungen identifizieren, die diesen Prozess, bezogen auf den Umgang mit der eigenen Hörschädigung, in Gang gesetzt haben. Folgende Aspekte stellten sich als zentral heraus:
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Offenheit gegenüber hörgeschädigtenrelevanten Themen
Viele unserer Interviewpartnerinnen und -partner haben eine Schule für gehörlose und schwerhörige Kinder besucht oder sind auf andere Weise bereits in ihrer Kindheit und Jugend mit ebenfalls gehörlosen und schwerhörigen Kindern in Kontakt gekommen. Es gibt jedoch auch Personen, die kaum oder gar keinen Kontakt zu anderen Menschen mit einer Hörbehinderung hatten. Der Besuch von Selbsthilfegruppen, der Kontakt zur Bundesarbeitsgemeinschaft Hörbehinderter Studenten und Absolventen (BHSA), das Studium der Schwerhörigenpädagogik etc. führten bei fünf Personen zu neuen, erweiterten Erkenntnissen über sich selbst als gl/sh Mensch. Die Auseinandersetzung mit hörgeschädigtenrelevanten Themen hat eine Veränderung im Umgang mit ihrer Hörschädigung bewirkt. Das Studium der Schwerhörigenpädagogik hat bei einer Person z.B. …
„… sozusagen eine neue Identitätsfindung [ausgelöst]. Also es hat sich nochmal ganz wunderbar ergeben, sich wirklich damit auch auseinanderzusetzen: Was bedeutet es, schwerhörig zu sein? Wie kann ich damit umgehen? Und auch andere Hörgeschädigte zu treffen.“
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Erlernen der Gebärdensprache, Kontakt mit der Gehörlosenkultur
Für fünf unserer IP wurde die Identitätsbildung vor allem auch durch das Erlernen der Gebärdensprache und das Kennenlernen der Gehörlosenkultur angeregt. Sie haben die Gebärdensprache nicht von Kindheit an, sondern meist später erlernt und daraus ein neues „Bild“ von sich als gehörloser bzw. schwerhöriger Mensch entwerfen können. Dadurch, dass sie Kommunikation nun als vollständiger erfahren, verliert Kommunikation das Mühselige, das Defizitäre, und damit wird auch die Hörschädigung anders bewertet.
Ein Teilnehmer hat erst im Laufe seines (zweiten) Studiums die Gebärdensprache erlernt und Kontakt zu Gehörlosen geknüpft:
„Dadurch habe ich ein ganz anderes Bild von mir selbst bekommen … Die Studenten, mit denen ich studiert habe, waren beeindruckt und fanden das toll, dass ich taub bin und trotzdem so gut bin. Da habe ich mich dann respektiert gefühlt und bin gelobt worden … Ich hab dann auch gesehen, dass ich den anderen ebenbürtig bin.“
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Hörschädigung als (beruflichen) Mehrwert
Neun unserer interviewten Personen, also ein knappes Drittel, arbeiten in einem Tätigkeitsfeld, in dem ihre Hörschädigung kein Hindernis, sondern einen „Mehrwert“ darstellt. Sie profitieren davon, dass siegehörlos oder schwerhörig sind, weil sie ein spezifisches Wissen, besondere Kompetenzen haben und/oder weil sie eine andere Haltung erworben haben und im Kontakt mit anderen gehörlosen und schwerhörigen Menschen eine andere Empathie zeigen können. So berichtet ein Akustiker:
„Meine Behinderung behindert mich eigentlich nicht, sondern bringt mir eigentlich den Erfolg in meinem Berufsleben, oder bestätigt mich auch.“
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Auslandsaufenthalte
14 IP (44 %), waren für einen längeren Zeitraum im Ausland, bei 11 von ihnen trug dieser Auslandsaufenthalt zu einer positiven Entwicklung bei – mit zwei Begründungslinien:
- Zum einen: Sie realisierten, dass sie fern von der „sicheren Heimat“ auch ohne Unterstützung von Familie und Freunden ihr Leben „bewältigen“ können.
- Zum anderen: Sie erkannten, dass man in anderen Ländern Menschen mit Behinderung ganz anders, oft positiver begegnet.
Die Erfahrung, dass man auch eine andere Haltung gegenüber Behinderung haben kann, regte verschiedene Teilnehmer dazu an, ihr eigenes Selbstverständnis zu überprüfen bzw. in Frage zu stellen:
„Ich habe die erste Gelegenheit gesucht auszubrechen … Ja, und da war ich da drüben und dann hab ich dort in den USA erst einmal festgestellt: Für die ist eine Schwerhörigkeit gar nix. [Das ist dort so]: Ja, dann haste halt Hörgeräte. Die gehen da ganz anders damit um. Die gehen mit Behinderungen generell anders um. Man hat vieles selbstverständlicher hingenommen als hier.“
Selbstwirksamkeit und Optimismus
Neben den qualitativen Interviews kamen in unserer Untersuchung auch drei standardisierte Testverfahren zum Einsatz, um die psychische Gesundheit, die Lebensbewältigung und die berufliche Zufriedenheit unserer Gesprächspartner beurteilen zu können (Kurzskalen zur allgemeinen Selbstwirksamkeitserwartung, zur beruflichen Selbstwirksamkeit und zum Lebensoptimismus). Die Auswertungen dieser Testverfahren zeigen auf, dass unsere IP über eine hohe allgemeine wie berufliche Selbstwirksamkeit verfügen und dass sie sich im Laufe ihres Lebens einen hohen Lebensoptimismus erworben haben.
Dies unterstützt unsere Ergebnisse aus der Analyse der Interviews, dass es sich bei den von uns befragten Personen um sehr starke bzw. stark gewordene Persönlichkeiten handelt. Sie scheinen es ganz im Sinne einer konstruktiven Identitätsarbeit geschafft zu haben, aus ihren Erfahrungen zu lernen und in Folge darauf zu achten, welche dieser Erfahrungen sie auf ihren Wegen voranbringen und welche Erfahrungen weniger nützlich sind.
Soziale Kontakte
Aus der Identitätsforschung ist hinlänglich bekannt, dass soziales und kulturelles Zugehörigkeitserleben ein wichtiger Baustein in der Identitätsarbeit von hörenden wie auch von gehörlosen und schwerhörigen Menschen ist. Deswegen haben wir nachgefragt, wie sich die sozialen Beziehungen unserer Interviewpartner abbilden:
- Die Mehrheit der Befragten, nämlich 75 Prozent, verfügt zum Zeitpunkt des Interviews über ein soziales Netzwerk, in dem hörende wie hörbehinderte Menschen vertreten sind.
- Nur ein Viertel hat kaum oder gar keinen Kontakt zu anderen gehörlosen und schwerhörigen Menschen.
- Jede Person arbeitet und lebt in einem Umfeld, in dem sich Kontakte zu hörenden Menschen ergeben.
Wie hängen soziale Kontakte mit beruflichem Erfolg zusammen?
Die Vielschichtigkeit des sozialen Netzwerkes ist auch ein Grund für den beruflichen Erfolg von gehörlosen und schwerhörigen Menschen: Sie pflegen Freundschaften, sie „netzwerken“, sie lassen sich motivieren und inspirieren. Sie ziehen einen Gewinn aus ihren Kontakten, und zwar von Kontakten zu Hörenden ebenso wie von Kontakten zu Menschen mit einer Hörbehinderung. Ihr Umfeld ist das „Fundament“, weil sie vom Kontakt mit anderen Menschen profitieren, unabhängig davon, welchen Hörstatus diese haben:
„Ich such mir immer positive Menschen, die mich positiv motivieren“.
Der Kontakt zu Hörenden außerhalb beruflicher Zusammenhänge trägt dazu bei, eine Gelassenheit bzw. eine Souveränität im Umgang mit Hörenden zu entwickeln, vor allem im Hinblick auf kommunikativ schwierige Situationen. So „geschult“ ist es für sie in einem beruflichen Setting leichter, mit Hörenden, die kein oder nur wenig Wissen von guten Rahmenbedingungen für gelingende Kommunikation mit hörgeschädigten Menschen haben, umzugehen. Sie haben bereits Strategien erprobt, Schwierigkeiten lassen sie nicht sofort straucheln. Ein Interviewpartner beispielsweise betont:
„Soziale Kontakte [mit Hörenden] sind wichtig. Dass man sich zum Beispiel auch mal privat unterhält. Klar, das ist für mich als Gehörlosen schwierig. (…) [Aber es ist wichtig], dass man den Dolmetscher auch mal beiseitelassen und sich locker unterhalten kann.“
Der Kontakt zu Gleichbetroffenen wird als gewinnbringend und förderlich beschrieben. Er stoße die eigene persönliche Entwicklung an und biete die Möglichkeit des Erfahrungs- und Informationsaustausches sowie sich gegenseitig zu ermutigen und zu stärken. Ebenso ist es eine Chance, gesellschaftspolitischen Einfluss zu nehmen und seine Interessen zu vertreten.
Beispiel: Eine Person hat sich in ihrem Studium zurechtgefunden, empfand jedoch den Studienalltag als stressig und kräftezehrend, das Knüpfen von Kontakten mit hörenden Kommilitonen als anstrengend. Es tat ihr dagegen gut, im Schwerhörigenverein aktiv zu sein:
„Ich habe meinen Ausgleich meistens unter hörgeschädigten Freunden gefunden.“